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Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Mi 7. Sep 2016, 22:12
von Christoph
Hallo zusammen,

ich bin auf eine amerikanische Kolumne gestoßen, deren (vielleicht etwas provokanter Aussage) ich aus eigener Erfahrung weitgehend zustimme: Wir Motorradfahrer sind am sichersten und entspanntesten unterwegs, wenn wir ein bisschen schneller und selbstbewusster/offensiver unterwegs sind als der übrige (Auto-)Verkehr.

http://www.cycleworld.com/motorcycle-co ... SOC&dom=fb

Der Kolumnist berichtet von seinen langjährigen Erfahrungen in extrem dichtem Berufsverkehr in Kalifornien. Ich übersetze ein paar Auszüge:

"Die gefährlichsten Tage waren, wenn ich dachte: Ich lasse es heute entspannt angehen und schwimme im Verkehr mit. Das waren die Tage, an denen ich fast abgeschossen wurde..."

"Motorradfahrer müssen lernen, sich ansatzweise aggressiv im Verkehr zu bewegen, immer etwas schneller durchschlängeln als der umgebende Verkehr. Wir müssen durch den Verkehr fahren, nicht darin."

"Ich schreibe davon, sich vorsichtig, aber bestimmt durch dichten Verkehr zu bewegen, immer versuchen, vorwärts zu kommen und selten oder nie im Verkehrsfluss mitzuschwimmen."

"Du bist aktiv, weil Du dadurch bessere Kontrolle über die Situation hast. Du agierst gegenüber den anderen Autos, statt Dich Ihnen auszusetzen. Du springst durch blinde Flecken statt darin zu bleiben. Statt Dich um möglicherweise auffahrende Autos zu sorgen, fokussierst Du auf Deine nächsten Aktionen voraus. Bleibe nicht in der Position zu hoffen, dass abgelenkte und unerfahrene Fahrer um Dich herumfahren."

"So wirst Du Räume im Verkehr finden, wo niemand um Dich herum ist. Wenn sie sich wieder schließen, bewegst Du Dich weiter vorwärts."

Zuletzt berichtet er von einem (Auto-)Fahrer, von dem er sich zum Flughafen fahren ließ, und dessen oberste Priorität die Einhaltung des Tempolimits war. Deshalb wurde er dauernd geschnitten und musste Lücken im Rückspiegel suchen... Für den Schreiber war das beängstigend.

<= Wie gesagt, bezieht sich das alles auf dichten Berufsverkehr. Ich habe aber auch hier auf Tour die Erfahrung gemacht, dass man mit Konsequenz, Berechenbarkeit und einem gewissen Druck nach vorne viele unklare und unsichere Situationen mit Autos oder anderen Motorradfahrern von vorne herein verhindern kann. (Entgegenkommende Knalltüten ausgenommen...) Wie seht Ihr das?

[Bitte daran denken, das ist die Meinung eines Kolumnisten, die ich versucht habe zu paraphrasieren. Also das Ganze nicht zu verbissen sehen...]

Viele Grüße
Christoph

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Mi 7. Sep 2016, 22:40
von Hisney
Vieles deckt sich mit meinen Erfahrungen. Als Berliner bin ich leider dichten Großstadtverkehr gewöhnt und habe einen entsprechenden Fahrstil. Letztendlich bewahrt uns aber nur vorausschauendes Fahren und Handeln vor Schlimmeren. Das Erahnen von unsinnigen Fahrmanövern, das Einschätzen der anderen Verkehrsteilnehmer ist eine permanente Herausforderung. Zudem muss ich leider feststellen, dass die Ablenkungen durch Handy / Smartphone / Navi immer mehr zunehmen. Hinzu kommen die Unarten beim Spurwechsel keinen Blinker mehr zu setzen oder eine hellrote Ampel noch als tolerabel anzusehen. Mich persönlich hat eine Mischung aus defensiver und partiell aggressiver Fahrweise die letzten 40 Jahre auf dem Fahrrad bzw. Motorrad unfallfrei überstehen lassen. Trotzdem lerne ich bei jeder Fahrt noch immer dazu...
Gruß Matthias

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Mi 7. Sep 2016, 23:32
von hawaiian
Hi Christoph,
Als ebenfalls Berliner kann ich Matthias nur zustimmen.
Tatsächlich muss man sehr oft für die anderen Verkehrsteilnehmer mitdenken. Vor allem aber immer daran denken, die anderen könnten dich übersehen haben. Da kann es schon mal vorkommen, dass die Flucht nach vorn Schaden abwenden kann.
Gruß Frank.

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 06:54
von Zörnie
Soll ich jetzt als dritter Berliner auch noch etwas schreiben? ;) Ob ich etwas schneller bin als der übrige Verkehr und leicht aggressiv fahre oder nur mitschwimme hängt von einigen Faktoren ab. Niemals jedoch dämmere ich wie einige Autofahrer so vor mich hin. Ich denke, die ständige Aufmerksamkeit und der 360°-Blick, oder besser die situational awareness, bewahren uns vor schlimmerem. Übrigens fahre ich mit dem Fahrrad oft aggressiver, aber das ist auch handlicher und die körperliche Bewegung darauf trägt auch dazu bei.

Mitschwimmen im Verkehr heißt übrigens ohnehin oft, dass man am oder sich jenseits der Tempolimits bewegt. Ständiges Lückenspringen und durch engste Räume quetschen geht ja mit unserem Trümmer ohnehin nicht, aber ich denke, dass soetwas weder zur Beruhigung des Verkehrs beiträgt noch zur Risikominimierung.

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 08:53
von ila
Hallo Zusammen,
meiner Meinung nach ist das nicht pauschalisierbar - es kommt darauf an.

Es gibt sicherlich Situationen, da macht ein "progressiverer" Fahrstil sicherlich Sinn und hat auch Sicherheitsvorteile, weil man u. a. selbst "wacher bleibt". Trotzdem ist vorausschauendes Fahren mit einer gehörigen Portion Selbstdisziplin (was auch die Kontrolle des eigenen Egos mit einschliesst) für mich der grösste Sicherheitsaspekt.
Ist man als Fahrer schon erschöpft durch eine längere Tour und merkt, dass dadurch das Reaktionsvermögen herabgesetzt ist, muss ich meinen Fahrstil daraufhin anpassen, auch im eigenen Interesse.

Ein leicht aggressiver Fahrstil kann leider auch bei anderen Verkehrsteilnehmern einen "Piephahnlängenvergleich" auslösen, der von einem Fahrduell bis hin zum Abdrängen führen kann. Das ist dann kein Spass mehr und kann tödlich enden. Selbst schon erlebt, vorzugsweise in Italien (aber diese Leute gibt es überall), wo sich neben Moppedfahrern auch Autofahrer gerne provoziert fühlen. Das kann zusätzlich zu sehr brenzligen Situationen führen, wo dann z. B. Überholmanöver vor nicht einsichtbaren durchgeführt werden, die zu schweren Unfällen führen können.
Es ist auch nicht zu unterschätzen, dass das Fahren auf Pässen zu einem Flow führt, der die Hemmschwelle herabsetzt und gerne zur Selbstüberschätzung führt, das führt zu Leichtsinn und im Worst-Case ebenfalls zu schweren Unfällen.

Ich habe sicherlich noch nicht alles bedacht, aber das sind meine Gedanken, die mir primär dazu einfallen.

Also sage ich nochmal: es kommt darauf an......

Ich wünsche allen eine knitterfreie Fahrt
Gruss Ingo

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 09:32
von cruiser13
Ich glaube auch, dass man das nicht generalisieren kann, es hängt vieles von der konkreten Situation ab. Was meiner Meinung nach wichtig ist, ist, wie Zörnie das genannt hat, der permanente 360-Grad-Bilck. Und zwar zum einen, um zu überraschende und auch unsinnige Aktionen antizipieren zu können, denn es kann einem als Motorradfahrer nun mal mehr passieren, als wenn man in einer Dose sitzt. Zum anderen aber auch, um im richtigen Moment Lücken zu erkennen, die man gefahrlos ausnutzen kann, in dem Sinne, wie es der Kolimnist beschrieben hat. Mir kommt es jedenfalls so vor, dass beim Motorradfahren meine sämtlichen Sinne noch mal ein Stück weiter geschärft sind, als wenn ich im Auto unterwegs bin.

Gruß aus München :winken:
Peter

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 09:47
von Irrlander
Ich finde ZU schnell ist gefährlich, auch ein bischen zu schnell.
Wenn sich zu schnell nur auf die Geschwindigkeitbeschränkung bezieht kommt es vor, dass ich schneller als erlaubt bin,
aber hoffentlich nie zu schnell.

Ich passe meine Geschwindigkeit der Situation an. Machmal fahre ich schneller als der andere Verkehr, zb fahre ich auf der Dosenbahn auch schon mal durch die Mitte, das aber nur wenn der Verkehr (fast) steht. Sobald es wieder mit 25km/h vorran geht schwimme ich wieder mit.

Auf Schotter/Rollsplitt bin ich oft langsamer als andere. Dabei orientiere ich ich mich an der vorgegebenen Geschwindigkeit, aber noch mehr am Straßenbelag. Zweispurfahrzeuge sind dort einfach weniger sturzgefährdet.

Inzwischen erlebe ich immer öfter, das Fahrer sich anders verhalten als ich vorrausahne. Das führt zu gefährlichen Situationen.
Es sind Fahrzeuge die doch noch überholen wollen und sich vor einen schieben, die doch bremsen (vor Ampeln oder mitten in ihrem Überholvorgang) oder die bewußt voll beschleunigen (vielleicht auch nur weil sie die Situation entschärfen wollen und denken sie wären schneller als ich).

Ein berechenbares Fahrverhalten aller ist hilfreich, was auch ein vorrauschauendes Fahren erfordert.
Häufiger Fahrspurwechsel oder Überholen (weil man ja dann immer auf neue Nachbarn trifft) ist dafür eher hinderlich.

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 12:47
von Bluefox
Hallo,

ich glaube, dass die Aussage "etwas zu schnell" sich auf den fließenden Verkehr und nicht auf die Straßenverkehrsordnung als solche bezieht.

Wenn man sich als Motorradfahrer etwas schneller durch den fließenden Verkehr als die umgebenden Autos bewegt, dann wird man von den Autofahrer eher wahrgenommen, als wenn man neben ihnen "mitschwimmt", dann vergessen Autofahrer schnell, dass neben ihnen noch ein Motorrad ist. Das gilt allerdings nur für Staus und Stadtverkehr. Auf der Landstraße speichern Auto- und Motorradfahrer nach etwa 30 Sekunden in ihrem Langzeitgedächtnis, wer in ihrer Umgebung ist.

Ob schnelles Fahren und plötzliches Auftauchen gegen "I-Phone-Autofahrer" hilft, weiß ich nicht.

Trotzdem uns Allen, allzeit GUTE FAHRT!
:winken:

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 12:54
von Leone blu
Christoph hat geschrieben:... ...

"Motorradfahrer müssen lernen, sich ansatzweise aggressiv im Verkehr zu bewegen, immer etwas schneller durchschlängeln als der umgebende Verkehr. Wir müssen durch den Verkehr fahren, nicht darin."

... ...

Viele Grüße
Christoph
Na ja, ich ersetze mal "aggressiv" durch "offensiv" oder, wie ila schon schrieb, "progressiv" oder ganz neudeutsch "proaktiv"; das Attribut aggressiv ist leider in unserem Sprachgebrauch viel zu negativ besetzt...

Ansonsten stimme ich da dem von Christoph übersetzten Text zu, wenn man sich "treiben" lässt, fährt man potentiell gefährlicher.

Und durch eigenes ebenso eindeutiges wie bestimmtes Verhalten kann eine Situation oft deutlich entspannt werden. So fahre ich mit dem Auto z.B. oft mit fremden Autofahrern Konvoi auf der BAB (je nach Verkehrslage, ist ja klar...); wenn ich feststelle, dass der andere in etwa mein Tempo fährt, einfach hinter dem anderen einscheren und ihm dadurch zeigen, dass man eben nicht drängelt oder ihn vor dem Nächsten auf der rechten Spur einzwickt.

Aktive Fahrer checken das sehr schnell und dann klappt das mit dem Konvoi über etliche km problemlos; die anderen werden rasch überholt und gut... Man kommt dadurch zügiger voran, als wenn man als "Einzelkämpfer" auf der linken Spur ist, auch wenn der andere vielleicht 10 km/h langsamer ist, als man selber grad fahren wollte...
cruiser13 hat geschrieben:...
Mir kommt es jedenfalls so vor, dass beim Motorradfahren meine sämtlichen Sinne noch mal ein Stück weiter geschärft sind, als wenn ich im Auto unterwegs bin.

Gruß aus München :winken:
Peter
:daumen:

Ciao, R.

Re: Besser ein bisserl zu schnell als zu langsam?

Verfasst: Do 8. Sep 2016, 17:29
von Yeti
Christoph hat geschrieben:Hallo zusammen, ich bin auf eine amerikanische Kolumne gestoßen.....:
"Die gefährlichsten Tage waren, wenn ich dachte: Ich lasse es heute entspannt angehen und schwimme im Verkehr mit. Das waren die Tage, an denen ich fast abgeschossen wurde..."
"Ich schreibe davon, sich vorsichtig, aber bestimmt durch dichten Verkehr zu bewegen, immer versuchen, vorwärts zu kommen und selten oder nie im Verkehrsfluss mitzuschwimmen."
"Du bist aktiv, weil Du dadurch bessere Kontrolle über die Situation hast"
Dem schließe ich mich aus Überzeugung an.
Hisney hat geschrieben:Hinzu kommen die Unarten beim Spurwechsel keinen Blinker mehr zu setzen
Ich will Dich ja nicht davon abhalten selbst den Blinker zu setzen, doch wenn ich einen Rat geben darf, dann vergiß die Blinker der anderen. Das Fahrzeug fährt dahin wohin die Räder gelenkt werden, nicht dorthin wohin es der Blinker kündet.
Würde ich nicht schon lange so denken, wäre es spätestens nach folgendem Erlebnis so weit gewesen: Ich fuhr zum Linksabbiegen blinkend an der Mittellinie entlang bis fast zur Mitte einer Kreuzung, ein Pkw kam ebenso blinkend entgegen. Ich dachte "Laß den mal machen", und der fuhr geradeaus :o .
Woher weißt Du daß der andere weiß, daß sein Blinker workt ? Das wissen übrigens auch viele Moppedfahrer nicht :!: .
Leone blu hat geschrieben:ich ersetze mal "aggressiv" durch "offensiv"
Das dachte ich auch erst. Dann konsultierte ich zwei Lexika und das Wiki. Ergebnis: Aggression wird mit "Feindseligem Bestreben und Verhalten" sowie "Tendenz zur Durchsetzung" beschrieben. Bei der Offensive handelt es sich um eine "Großräumige Angriffs-Operation mit starken militärischen Kräften."
Fazit: Bei der Offensive fehlt zwar das ggggrrrrr ;) , aber sie stellt schon den ausgebrochenen Konflikt dar. Nicht alles was harmlos klingt ist es also auch :) .

Das meiste Übrige wurde schon geschrieben - soll ja kein Buch werden.

Grüße, Yeti.